Neulich kreuzte diese Weinbergschnecke meinen Weg. Ich hatte etwas Zeit und sah ihr eine Weile zu, wie sie geradewegs über die Steine in Richtung Beere kroch. Kurz vor dem Hindernis stoppte sie, zog ihre Fühler ein und tat ein/zwei Augenblicke gar nichts. Dann wendete sie ihren Kopf, drehte sich nach links und nahm wieder Fahrt auf. Nun lag ihr ein Blatt im Weg; sie kroch einfach darüber hinweg. Vielleicht hatte sie die Wiese dahinter schon im Visier... - wer will's wissen.
Angst vor der falschen Wahl
Nun lassen sich Entscheidungsprozesse von Mensch und Weichtier nicht über einen Kamm scheren. Trotzdem hat mich der Schlenker, der Schnecke überrascht und dazu inspiriert, diesen Text zu schreiben. Denn ihr Verhalten erinnert mich daran, wie es uns Menschen ergeht, wenn wir uns in einem Dilemma befinden. Die Entscheidungsnot ist dann oft so groß, dass wir uns um unseren Schlaf bringen, eben weil der Kopf nicht zur Ruhe kommt. Dilemma kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus „Di“ = zwei und „Lemma“ = Voraussetzung, Annahme zusammen. Ich schwanke also konstant zwischen entweder/oder. Soll ich gehen oder bleiben? Halten sich die Vor- und Nachteile beider Alternativen die Waage, können wir uns nicht sicher entscheiden. Die Angst, eine falsche Wahl zu treffen, kann eine nötige Entscheidung über Jahre unmöglich machen. Ebenso kann sie uns dazu verleiten, überstürzt eine Wahl zu treffen.
Lösungsschritte liegen auch in uns selbst
Viele Menschen holen sich an diesem Punkt Hilfe von außen: Sie reden mit Freunden und Familie, durchforsten das Internet nach hilfreichen Tipps oder finden professionelle Hilfe. Sie sind damit auf der richtigen Spur, denn ein Dilemma wird dann entkräftet, wenn neue Sichtweisen und Informationen hinzu kommen. Wir suchen sie oft im Außen. Mögliche Lösungsschritte liegen aber auch in uns selbst. Und damit sind wir bei der Methode des Tetralemmas. Im Gegensatz zum Dilemma umfasst es vier (tetra) Annahmen und wird gern in Beratung und Therapie eingesetzt.
Ursprung in der indischen Logik
Ursprünglich ist das Tetralemma eine Figur der indischen Logik. Nach Wikipedia besteht diese Figur aus vier Sätzen, die einem Objekt eine Eigenschaft 1. zusprechen, 2. absprechen, 3. sowohl zu- als auch absprechen und 4. weder zu- noch absprechen. Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibed entwickelten daraus eine Variante für systemische Strukturaufstellungen, also für die Arbeit mit Bodenankern. Der innere Konflikt wird nach außen gebracht, indem vier mögliche Felder abgegangen werden können: das Eine, das Andere, Beides und Nichts von Beidem. Hinzu kommt ein fünftes Feld, das über die vier Positionen hinausführt und den etwas komplizierten Titel „All dies nicht und selbst das nicht“ trägt, einfacher: das unbekannte Element. Stehen Klienten letztlich auf diesem Platz, gewinnen sie oft Einsichten in ihre Problemlage, die ihnen bisher versperrt geblieben sind.
Tetralemma und Focusing vertragen sich gut
In meiner Praxis kombiniere ich das Tetralemma stets mit Focusing. Beide Methoden vertragen sich gut. Ganz praktisch heißt das, ich frage meine Klienten nicht nur danach, was ihnen auf dem jeweiligen Feld im Kopf herumgeht. Ich frage auch nach Gefühlen, die eventuell auftauchen und nach Körperempfindungen (Wie stehe ich auf einem bestimmten Feld? Spüre ich einen Druck, evtl. auch einen Bewegungsimpuls?). An einem Beispiel möchte ich Ihnen das Vorgehen verdeutlichen: Vor einigen Jahren hatte ich die Möglichkeit, in ein neues Aufgabenfeld einzusteigen. Einerseits wollte ich zusagen (das Eine), andererseits wollte ich absagen (das Andere). Vielleicht gab es einen Kompromiss (Beides). Vielleicht sollte ich meinen Blick auf etwas anderes richten (Nichts von Beidem). Und für was stand das unbekannte Element?
Rasch und sauber wie ein Schnitt
Ich nahm die einzelnen Platzkarten (Bodenanker) und verteilte sie von meiner Ich-Karte aus im Raum. Dann ging ich die einzelnen Positionen nacheinander bis hin zum unbekannten Element ab. Im Rückblick entpuppte sich diese letzte Karte als die Interessanteste. Als ich dort stand, fühlte ich mich sehr lebendig. Nach einer kleinen Weile durchzog mich ein Hauch von Scheitern. Ich fühlte mich etwas klamm. Aber nicht klamm genug, um die Finger von dem Projekt zu lassen. Ich sagte zu und lernte viel in den kommenden Jahren. Manchmal kamen mir leise Zweifel, ob das wirklich mein Weg ist. Schließlich kam ich an den Punkt, an dem ich merkte, nun einen Strich ziehen zu müssen. Ein Weitergehen hätte mir geschadet. Meine Entscheidung fiel rasch und sauber wie ein Schnitt. Mein Abschied war herzlich und damit war es gut.
Licht in die eigenen Beweggründe bringen
Die allermeisten Klienten arbeiten gern mit dem Tetralemma. Sie staunen, wie unterschiedlich sie die einzelnen Aspekte der Problematik wahrnehmen. Auch Paare nutzen diese Methode gern. Manchmal gibt es Entscheidungsdruck zu einem gemeinsamen Thema, zum Beispiel die Wohnsituation, die beide komplett unterschiedlich bewerten. In solchen Fällen ist es schwer, sich gemeinsam für eine tragfähige Veränderung zu entscheiden und diese auch in die Tat umzusetzen. Einzelaufstellungen können helfen, Licht in die eigenen Beweggründe zu bringen. Tauscht sich das Paar dann in der nächsten Sitzung darüber aus, können sich Türen öffnen.
Schnurstracks zurück zum Anfang
Ob das Abgehen des Tetralemmas eine Entscheidung nach sich zieht oder eben nicht, liegt beim Klienten. In jedem Fall bringt es Bewegung ist blockierte Entscheidungsprozesse und ist stets für eine Überraschung gut. Ja, und damit bin ich wieder bei meiner Schnecke vom Anfang. Ein paar Stunden nach unserer Begegnung ging ich den Weg noch einmal. Da sah ich sie wieder, genau an derselben Stelle. Blatt und Beere lagen noch dort. Doch diesmal hatte sie keinen Blick dafür. Die Schnecke kroch schnurstracks an ihnen vorbei von der Wiese zurück in Richtung Busch. Ich ging langsam weiter und fragte mich, welches unbekannte Element sie wohl zur Umkehr bewogen haben mochte.